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Heute
Der
kleine Himmel heute, der
sehr schnell vergeht
In der Bibliothek des Hotels Vajra in Kathmandu fällt Carsten Fock im Februar 2024 unerwartet ein Gedichtband von Rolf Dieter Brinkmann in die Hände. Er kennt den Band gut, das gleiche Buch steht in seinem Studio in Bamberg. Fast ist ihm, als hätte es ihn hierher begleitet. Als fände er hier in der Fremde etwas wieder, von dem er nicht wusste, dass er es verloren hatte. Etwas, das über die Zeit schleichend in Vergessenheit geraten war. Es heißt, man nimmt sich mit, wohin man geht. Fock ist schon da. Er begegnet sich, seiner Vergangenheit im Betrachten des Buches in der Hotelbibliothek in Nepal wieder. Oder: neu.
Ein Gedicht aus dem Jahr 1968 berührt ihn besonders, das Gedicht „Heute“, dem auch der Titel der Ausstellung „da stehen wir sprachlos am Fenster“ entliehen ist. Ein Gedicht, das ihn gedanklich zurückwirft in eine Zeit des gesellschaftlichen Auf- und Umbruchs, in die Zeit von Revolution und Punk, von Protest und Widerstand. Ein Text, der Erinnerungen wachruft an Songs von Blumfeld, die tiefgründigen Texte von Jochen Distelmeyer. Und mit einem Mal öffnet sich inmitten nepalesischer Fremdartigkeit, fernab vom Vertrauten, die Welt. Von den Höhenzügen des Langtang Nationalparks zeigt sie sich in einer Weite ohne Begrenzung.
Mit Ausblick auf die Silhouette des Mount Everest öffnet sich auch Carsten Focks Arbeit. Er verlässt sein sicheres Terrain der Landschaftszeichnung, die Fingerzeichnungen mit Pastellkreide auf Papier brauchen kein Gerüst mehr. Ungewohnte Farbwelten tun sich auf. Fock verändert den Bildraum vom Abstrakten hin zum Konkreten. Die Arbeiten werden gegenständlicher, immer wieder bleibt das Auge am charakteristischen Gipfel hängen, tibetanische Gebetsfahnen deuten sich an. Fast wie ein Fremdkörper scheint hier das zweiteilige Seestück und ist für die Ausstellung doch unverzichtbar. Es ist Ausgangspunkt für Focks Reise, zeigt den so vertrauten und von Fock immer wieder zitierten Blick aufs Meer, von dessen Ufer er sich aufmacht in die unbekannte Welt, die Berge, auf den höchsten Gipfel. Von der Weite geht es in unmittelbare Nähe. Der Blick wandert durch die Landschaft hin zum Menschen. Von der Zeichnung hin zur Malerei. Fock greift zum Pinsel, lässt Portraits entstehen, unter anderem von Dalai Lama oder Julian Assange, aber auch weniger eindeutige Abbildungen. Bei näherem Betrachten lösen sich die Gesichter auf, setzen sich neu zusammen, lassen sich nicht festlegen. Die Suche des Auges nach Bekanntem bleibt vergeblich. Hier, wo alles möglich scheint, findet Erkennen immer nur beinahe statt.
Eva-Maria Braun